Poetik und Hermeneutik im Rückblich

#1 von Nauplios , 26.05.2022 19:03

An Hans Robert Jauß schreibt Hans Blumenberg am 25. Januar 1974, er sehe sich selbst "immer mehr auf die Seite der lachenden thrakischen Magd geraten, wenn ich angesichts der vor mir stehenden fünf Bände von Poetik und Hermeneutik die von mir sicher nicht unverschuldete abenteuerliche Steigerung des Abstraktionsgrades betrachte, die mich heute nicht unbelustigt läßt". (DLA Marbach) Noch 1979 ist von einem "P-H-Laster der Überabstraktion" in einem Brief an Jauß die Rede (04.12.). So wie Blumenberg hier im Rückblick auf die Anfänge von Poetik und Hermeneutik eine andere Perspektive einnimmt auf die Sitzungen der Forschungsgruppe in den 60er Jahren ist der Blick auf die Geschichte mit Rekonstruktionen in Form nachträglicher Auslegungen verbunden. So geht es in den ersten Sitzungen um den Übergang der regelpoetischen Kunstkritik in die Moderne. Der Zeitabschnitt umfaßt etwa die Spanne von Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Themen der ersten drei Sitzungen waren: "Nachahmung und Illusion", "Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne" und "Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen". -


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RE: Poetik und Hermeneutik im Rückblich

#2 von Nauplios , 26.05.2022 23:24

Zu den Erstaunlichkeiten von Poetik und Hermeneutik gehört, daß die Mitglieder der Gruppe allesamt auf die unterschiedlichste Weise vom Krieg und von der NS-Zeit betroffen waren. Dies verdeutlicht schon der innere Kern der Gründungsmitglieder. Hans Blumenberg hatte sich als "Halbjude" durch die Flucht aus einem Arbeitslager vor den Nazis in Sicherheit gebracht. Hans Robert Jauß dagegen war Hauptsturmführer der Waffen-SS. Herbert Dieckmann war mit einer Jüdin verheiratet und ging wie Siegfried Kracauer ins Exil; Werner Krauss wurde als Mitglied der "Roten Kapelle" verhaftet und entging der gegen ihn verhängten Todesstrafe nur knapp; nach dem Krieg wurde er Mitglied im Parteivorstand der SED. Reinhart Koselleck und Wolfgang Preisendanz waren Soldaten der Wehrmacht gewesen. - Auch in den privaten Briefen war die persönliche Vergangenheit der Mitglieder kein Thema. Verstanden kann dieses Schweigen aus den spezifischen Bedingungen der 50er und 60er Jahre werden. Im Hochschulbereich schaute man nach vorn; es entstanden Pläne eines reformierten Hochschulsystems, eine Neuausrichtung speziell der Literaturwissenschaft stand im Raum. Daran hatte insbesondere Jauß einen großen Anteil. Über das Vergangene wurde geschwiegen. Ohne dieses Schweigen wäre Poetik und Hermeneutik womöglich nie zustande gekommen.


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RE: Poetik und Hermeneutik im Rückblich

#3 von Andrea , 29.05.2022 23:54

Sehr interessant, vor allem die Frage nach dem "Verstehen" wie es möglich war, die Vergangenheit schweigend hinter sich zu lassen. Vielleicht war die Fassungslosigkeit über das Erlebte so groß, keine Worte zu finden. Da ist die Flucht nach vorne, wohl heilsam.
Ab Minute 35 spricht Hans-Georg Gadamer über diesen verschwiegenen Zeitraum.

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RE: Poetik und Hermeneutik im Rückblich

#4 von Andrea , 29.05.2022 23:59

Ab Minute 35
Hans-Georg Gadamer - "Man muss immer damit rechnen, dass der andere recht haben könnte"

https://youtu.be/7v_S10WVZqg

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RE: Poetik und Hermeneutik im Rückblich

#5 von Nauplios , 04.06.2022 18:23

Zitat von Andrea im Beitrag #3
Sehr interessant, vor allem die Frage nach dem "Verstehen" wie es möglich war, die Vergangenheit schweigend hinter sich zu lassen.


Nicht immer konnte man die Vergangenheit schweigend hinter sich lassen. Ganz in meiner Nähe liegt Recklinghausen im Nordwesten von NRW. Dort gab es nach 1945 ein Internierungslager der Briten, in dem es vier sogenannte Civil Internment Camps für deutsche Kriegsverbrecher gab. In CIC 4 war der SS-Hauptsturmführer Hans Robert Jauß von 1946 bis 1948 interniert. Dem Direktor der Universität Konstanz, Gerhard Hess, berichtet Jauß aus Anlaß seiner Ernennung zum ordentlichen Professor im Fachbereich Literaturwissenschaft am 01. April 1966:

"In der Zeit vom 23. Oktober 1939 bis April 1945 habe ich meinen Kriegsdienst in der Waffen-SS abgeleistet. Nach meiner Musterung durch die Hitlerjugend trat ich als 17-Jähriger dieser Formation bei, in Unkenntnis der Ziele der Gesamtorganisation, um mir den Arbeitsdienst zu ersparen und rascher zum Studium zu gelangen. [...] Nach zweijähriger Gefangenschaft im 4. CIC Recklinghausen wurde ich durch ein ordentliches Spruchkammerverfahren der Spruchkammern Recklinghausen und Göppingen am 02. Januar 1948 mit der Feststellung entlassen, daß individuelle Belastungen gegen mich nicht vorlägen." (DLA Marbach) -


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