Ein Gründungsmythos

#1 von Nauplios , 27.05.2022 18:59

Mit "weißt du noch ..." beginnen Versicherungen auf Gegenseitigkeit sofern sie ein Ereignis, ein Erlebnis, ein Darum betreffen, das im Nebel rückwärtiger Besinnung unscharfe Konturen zu bekommen droht. Erzählt wird dann eine Geschichte, deren Wahrheitsgehalt nicht im Vorgang selbst beschlossen ist, sondern in der Bedingung der Möglichkeiten dieses Vorgangs. Ob es so war, verliert an Bedeutung; daß es so gewesen sein könnte, gewinnt an Bedeutsamkeit. Zum Gründungsmythos von Poetik und Hermeneutik hat Hans Robert Jauß dies beigetragen:

"Für mich beginnt die Geschichte mit dem Augenblick, als ich bei einem Fakultätsausflug die beiden Mitinitiatoren, Hans Blumenberg und Clemens Heselhaus, auf die Plattform eines oberhessischen Kirchtums stellte und ihnen erklärte, sie würden diesen Ort nicht eher verlassen, als bis das Thema für ein erstes Kolloquium gefunden, das Unternehmen getauft und der Antrag an die Mäzene beschlossen sei." (Hans Robert Jauß; "Vorarbeiten zu den wissenschaftlichen Memorabilien")

Aus dem "Kirchturm" wurde in der endgültigen Fassung der Memorabilien ein "Turm", was dem Einfluß möglicher Transzendenzerfahrung keinen Abbruch tut; allemal war man dem Himmel näher als auf Erden.


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RE: Ein Gründungsmythos

#2 von Andrea , 29.05.2022 01:07

Wie war das den so, damals bei Blumenberg?
Auf was legte er den besonderes Wert, bzw. was forderte er den von seinen Studenten?

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RE: Ein Gründungsmythos

#3 von Nauplios , 31.05.2022 04:54

Ich komme in Kürze auf diesen Punkt, Andrea ... brauche noch ein wenig Zeit.


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RE: Ein Gründungsmythos

#4 von Nauplios , 01.06.2022 14:21

Zitat von Andrea im Beitrag #2
Wie war das den so, damals bei Blumenberg?
Auf was legte er den besonderes Wert, bzw. was forderte er den von seinen Studenten?


Tja, wie war das bei Hans Blumenberg ...

Mein erster Gedankenimpuls dazu: so wie es heute nicht mehr möglich wäre. Blumenberg war von 1970 bis 1985 Ordinarius in Münster und trat dort die Nachfolge von Joachim Ritter an. Daß er den Ruf nach Münster annahm, hing u.a. mit den damaligen hochschulpolitischen Verhältnissen Ende der 60er Jahre zusammen. Das westfälische Münster bot ihm in seiner provinziellen Beschaulichkeit die Möglichkeit des Rückzugs an, zunächst eines partiellen, später eines nahezu vollständigen Rückzugs. - Der "unsichtbare Philosoph", wie er ja heute gerne genannt wird, war in den ersten Jahren seiner Hochschulkarriere allerdings keineswegs unsichtbar. Das berichten Weggefährten aus den 50er/60er Jahren. In diese Zeit fiel ja dann auch die Gründung von Poetik und Hermeneutik (1963), die maßgeblich von Blumenberg und Jauß betrieben wurde. Der Rückzug erfolgte mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der 68er Jahre.

Als ich in den 70er Jahren erstmals eine Lehrveranstaltung Blumenbergs besuchte, hielt er bereits nur noch Vorlesungen. Seminare kamen zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr infrage für ihn. - Zu diesen Vorlesungen betrat er das Münsteraner Schloß durch einen geheimen Seiteneingang, der sich in der Nähe des Hörsaals befand, legte Hut und Mantel ab und hielt die Vorlesung dann stehend am Katheder. Die Veranstaltungen begannen pünktlich und endeten pünktlich. Neunzig Minuten dozierte er - oft nur mit wenigen Karteikarten, manchmal mit einem Typoskript - thematische Abweichungen inbegriffen. Dabei beobachtete er das Auditorium durchaus, das nicht nur aus Studenten bestand; fast immer waren seine Assistenten anwesend und auch das, was man damals "Bildungsbürgertum" nannte, dazu Honoratioren der Stadt. Drohte der Vortrag das Publikum zu ermüden, konnte er es durch humorvolle Einlassungen und Anekdoten aufmuntern. Mit fester Stimme und leicht hanseatischem Akzent ging es dann weiter. Jürgen Goldstein, sein Biograph, der Blumenberg in den 80er Jahren gehört hat, berichtet, er habe nie so gelacht wie in Blumenbergs Vorlesungen. Diesen Eindruck kann ich bestätigen; die Vorlesungen waren oft von einem feinen, tiefgründigen Humor durchzogen. Man spürte sehr schnell, daß der Vortragende aus einem Überschuß an Wissen schöpfen konnte, das er mit schelmischer Gewitztheit seinen Hörern darbot.

Bei Blumenberg kam etwas hinzu, das inzwischen nahezu völlig aus der Mode gekommen ist: Gelehrsamkeit. Dort sprach nicht nur jemand, der viel gelesen hatte, sondern ein Gelehrter, für den es selbstverständlich war, Zitate in ihrer Originalsprache zu bringen und damit dem Auditorium Griechisch, Latein und Hebräisch zuzumuten. Er hat es dann meistens auch übersetzt, wissend, daß ein Student der Philosophie auch in den 70er Jahren bereits mit den alten Sprachen nicht mehr vertraut war. Für ihn war es vollkommen klar, daß die Lektüre Platons erst in der Originalsprache auch die Welt Platons eröffnete. Eine Übersetzung ist ein Schlüssel, mit dem man sich dem altgriechischen Text zwar annähern kann, der aber als Schlüssel für sich genommen noch nichts aufschließt.

Diesbezüglich nahm Blumenberg auf seine Hörer kaum Rücksicht. Seine Vorstellung, Philosophie zu lehren war tatsächlich eine recht handwerkliche: der Meister macht es vor - der Lehrling macht es nach. Blumenberg machte es vor und was seine Studenten dann machten, betraf ihn nicht mehr und war ihm herzlich egal. Eine Art "Betreuung" gab es nicht. Niemand wagte es, eine Frage zu stellen. Er war in dieser Hinsicht unnahbar, nicht kalt und abweisend, aber darauf bedacht, mit Ende der Vorlesung zügig den Seitenausgang zu nehmen und zurück in seine Schreib- und Denkhöhle nach Altenberge (ca. 15 km von Münster entfernt) zu kommen. Nie habe ich erlebt, daß ihn jemand angesprochen hätte.


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RE: Ein Gründungsmythos

#5 von Nauplios , 01.06.2022 15:34

Sicher - man kann all das als antiquiert bezeichnen, altmodisch, aus der Zeit gefallen ... Das sagt viel über das Verständnis derer, die solche Urteile aus dem Gestus der Überlegenheit fällen. Man fühlt sich auf der linearen Fortschrittsskala des philosophischen Denkens an privilegierter Stelle, weil man Bewohner des 21. Jahrhunderts ist und damit vergangenen Zeiten voraus. Mit Platon und Kant sich zu beschäftigen erscheint als nur noch "historisch" von Belang und eine Angelegenheit von Krämerseelen und Archivaren zu sein - unnötiger Ballast, der vor allem von einem abhält: selber zu denken. - Wer zitiert hat selbst nichts zu sagen. Das Alte ist überholt. Das Neue ist man selbst.

Diese Einstellung ist vor allem in Foren weit verbreitet - dieses Forum natürlich ausgenommen. Was hätte Hans Blumenberg wohl dazu gesagt? - Vermutlich hätte er dazu eine Glosse verfaßt.

Eine Glorifizierung der guten alten Zeiten wäre natürlich falsch und auch ungerecht den später Geborenen gegenüber. Ein junger Mensch kann nichts dafür, daß er zwanzig oder dreißig ist und deshalb einen Blumenberg nie hören konnte. Lesen kann er ihn. Dann allerdings ist die Erwartung an ihn berechtigt, daß er erkennt, was er vor sich hat. Er wird nicht ohne weiteres verstehen, was er vor sich hat. Ein Vorwurf ist ihm daraus nicht zu machen, die Ermunterung, sich im obigen handwerklichen Sinne etwas zeigen zu lassen, darf er sich allerdings zu Herzen nehmen. Und das gilt selbstverständlich nicht nur für den Philosophen Blumenberg.

Stattdessen schiebt man die eigenen Defizite gerne als Mangel an "Verständlichkeit" in die Schuhe des Autors, der sich zu wenig um einen "guten Stil" bemüht hat und dessen Manieriertheit zu akzeptieren man schlechterdings nicht bereit ist. - Das ist Konsumentenhaltung, die die Philosophenzunft zu einem Dienstleistungsunternehmen degradiert, welches sich gefälligst der intellektuellen Trägheit seiner Kundschaft anzubequemen hat.

Wohlgemerkt: ich spreche jetzt über Erfahrungen in philosophischen Foren aus den letzten zwanzig Jahren, nicht aus den Gesprächen mit Dir, Andrea. - Und selbstverständlich gibt es auch im Netz Menschen, die seriös mit philosophischen Themen umgehen. Lautstark hingegen sind jene, die meinen, Philosophie sei eine Sache von Weltanschauungen, die man über Megaphone vermittelt.


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RE: Ein Gründungsmythos

#6 von Andrea , 04.06.2022 00:23

Danke Nauplios!
Genau so eine Antwort habe ich erhofft, jedoch nicht erwartet. ;-)

Das Hans Blumenberg soviel Wert auf das Lesen in Originalsprache legte, finde ich interessant.
Es ermöglicht einen anderen Zugang und Blick auf diese Gedankenwelt.

Danke für den ausführlichen, persönlichen Einblick in Blumenbergs Welt.

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RE: Ein Gründungsmythos

#7 von Andrea , 04.06.2022 00:41

Du beschreibst, in der heutigen Zeit möchte man sich nicht mehr so stark einlassen auf diese alten Zeiten.
Aber entspringt und baut sich nicht alles auf, aus diesen Schatz der Vergangenheit?
Ich frage mich eher, was ist denn "selbst denken"?
Ist es nicht einfach ein Hinterfragen des Gegebenen welches jedem Individuum in seiner Lebenswelt begegnet?

:-) auf diese Fragen erwarten keine Antwort. Ich habe sie einfach nur so allgemein in den Raum gestellt.

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RE: Ein Gründungsmythos

#8 von Nauplios , 04.06.2022 17:38

Zitat von Andrea im Beitrag #7
Du beschreibst, in der heutigen Zeit möchte man sich nicht mehr so stark einlassen auf diese alten Zeiten.
Aber entspringt und baut sich nicht alles auf, aus diesen Schatz der Vergangenheit?
Ich frage mich eher, was ist denn "selbst denken"?
Ist es nicht einfach ein Hinterfragen des Gegebenen welches jedem Individuum in seiner Lebenswelt begegnet?

:-) auf diese Fragen erwarten keine Antwort. Ich habe sie einfach nur so allgemein in den Raum gestellt.





Aus einem hermeneutischen Verständnis heraus ist das Philosophieren grundsätzlich in den geschichtlichen Horizont des Denkens gestellt. Es gibt kein Reset, kein voraussetzungsloses Anfangen. Verstehen ereignet sich im Horizont geschichtlicher Erfahrungen. - Es gibt einen Brief Hans Blumenbergs an seinen Schulfreund Ulrich Thoemmes vom 01. April 1987, der eine vielleicht überraschende Passage des ehemaligen KZ-Insassen Blumenberg enthält:

"Es war eine der Erfahrungen, die mich bis heute gegenüber allem leichtfertigen Urteilen bestimmt hat: Fast alle, die mir wirklich geholfen haben, waren Nazis." (DLA Marbach). So blieb Blumenberg mit Erich Rothacker, dem Abteilungsleiter in Goebbels Propagandaministerium, der die "Bücherverbrennung" auf seiten des Ministeriums verantwortete, bis an dessen Lebensende befreundet. Den Nachruf zum Tode Rothackers verfaßte der "Halbjude" Blumenberg. -


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RE: Ein Gründungsmythos

#9 von Nauplios , 06.06.2022 19:02

Dazu gibt es im Nachlaß Hans Blumenbergs einen "noch zu schreibenden Brief", in dem es heißt:

"Ich war mit E.R. befreundet. Ich mochte ihn. Ich habe gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan habe. Ich bin trotzdem bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben. Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht."


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RE: Ein Gründungsmythos

#10 von Andrea , 12.06.2022 23:33

Mhm,... da gehört schon einiges dazu, um in so einer außergewöhnlichen Lage diese persönliche Haltung einzunehmen.

"Nicht steht mir zu, über eines anderen Leben zu urteilen!"
-Hermann Hesse, Siddhartha-

Das beständige Urteilen in Gut und Böse trägt der Mensch als zentrales Problem mit sich herum. Wir urteilen über uns selbst, über andere oder Situationen. Es sind menschliche Moralvorstellungen, die sich im Laufe der Zeit ändern und die sich außerdem von Region zur Region unterscheiden. Somit sind Konflikte vorprogrammiert. Konflikte im Menschen drin und Konflikte zwischen den Menschen.
Nicht zuletzt, urteilen wir auch auf der Basis von Informationen die uns zur Verfügung stehen, die wir in unserer Lebenswelt wahrnehmen. Nunja, mit den Informationen ist das so eine Sache, die können lückenhaft sein.

Sehr weise von Blumenberg, sich dieses menschliche Drama vom Leib zu halten. :-)

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