Tanzverdikt

#1 von Nauplios , 05.06.2022 17:36

Da an anderer Stelle schon die Philosophie als Lebensform angesprochen wurde: In den 20er Jahren war die Phänomenologie als philosophische Schule bereits fest etabliert, nicht zuletzt als Ergebnis der denkerischen Strenge ihres Schulgründers Edmund Husserls. Diese keineswegs auf's Denkerische beschränkte Strenge seines Doktorvaters bekam auch Günther Anders zu spüren, der darüber in seinen Ketzereien berichtet:

"In der Tat hat er mich, seinen Doktoranden, als ihm zu Ohren gekommen war, daß ich eine Faschingsnacht kostümiert durchgetanzt hatte, zu sich bestellt, um mir fürs Leben mitzugeben: 'Ein Phänomenologe tanzt nicht und zu allerletzt kostümiert!' Als ich ihm antwortete, ich hätte nicht als Phänomenologe getanzt und mich nicht als solcher kostümiert, fragte er - und das meinte er - zurück: 'Sondern als was?'" (Günther Anders; Ketzereien; S. 242)


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RE: Tanzverdikt

#2 von Nauplios , 05.06.2022 18:04

Das Leben hat diese Anekdote in eine jener Geschichten eingebettet, die wohl nur das Leben schreibt. Günther Anders lernte seine spätere Ehefrau Hannah Arendt auf einer Tanzveranstaltung kennen:

"Gewonnen habe ich Hannah auf dem Ball mit der beim Tanzen gemachten Bemerkung, daß Lieben derjenige Akt sei, durch den man etwas Aposteriorisches: den zufällig getroffenen Anderen, in ein Apriori des eigenen Lebens verwandle. - Bestätigt hat sich diese schöne Formel freilich nicht."

Die Ehe mit Hannah Arendt währte nur acht Jahre. Bestätigt hat sich, daß Anders immerhin doch als Phänomenologe tanzte.


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RE: Tanzverdikt

#3 von Nauplios , 05.06.2022 18:19

Setzte Husserl mit der Strenge an, daß ein Phänomenologe nicht tanzt, zieht Blumenberg bereits die Dialogbereitschaft des Phänomenologen in Zweifel, denn der "Phänomenologe, dessen tägliche Arbeit in der Protokollierung seines Selbstverständnisses von Bewußtsein besteht, ist ein eminent undialogischer Philosoph, weil er nicht argumentiert oder jedenfalls nicht zu argumentieren beabsichtigt." (Hans Blumenberg; Phänomenologische Schriften; S. 171)


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